VII
Hans Holbeins Totentanz und seine Vorbilder – Der Berliner Totentanz
von Lübeck ging wahrscheinlich schon gegen das Ende des 15. Jahrhunderts die Anregung zur Herstellung des Wandgemäldes aus, das sich in der Marienkirche zu Berlin befindet. Die Übertragung wird ausser durch die Wiederholung des Kettenreigens namentlich durch die Übereinstimmung der Stände bewiesen. Von den weltlichen Personen des Lübecker Gemäldes sind nur zwei, der Jüngling und die Jungfrau, in Berlin durch den Betrüger und den Narr ersetzt; die Zahl der Geistlichen ist aber merklich vermehrt. Auch wird das Berliner Gemälde durch einen predigenden Mönch eingeleitet, zu dessen Füssen zwei Teufelsfratzen hocken, von denen eine den Dudelsack bläst. Über die Ableitung dieses musizierenden Teufels von dem musizierenden Toten in Reval, bezw. Lübeck, und weiter von dem Musiker des Schauspiels wurde schon gesprochen. Man wird kaum fehlgehen in der Annahme, dass mit jenen Berliner Figuren die auf die Seelen der Sterbenden lauernden Teufel gemeint waren, denn auch in anderen Abänderungen zeigt sich in Berlin ein derartiger kirchlich-asketischer Einfluss. Freilich beherrschte dieser schon die französischen Totentänze, die Muster der norddeutschen; die Metamorphose des ursprünglichen Musikers ist aber deshalb bemerkenswert, weil sie deutlich zeigt, dass das wirkliche Schauspiel des Totentanzes in Norddeutschland ganz unbekannt und unverstanden war.
Zu den Folgen jenes mönchischen Einflusses gehört ferner die von Grund aus veränderte Anordnung des ganzen Reigens. Die Geistlichen und die Weltlichen sind in zwei völlig getrennte Reihen geschieden. Beim Prediger beginnt die geistliche Reihe mit dem niedersten Stand, dem Küster, und bewegt sich von links nach rechts bis zu einem Bilde der Kreuzigung, das die Mitte des ganzen Reifens einnimmt. hinter diesem Bilde beginnt der weltliche Reifen mit dem Kaiser und bewegt sich in derselben Richtung, also von der Kreuzigung weg, obgleich diese doch ganz offenbar der Mittelpunkt des Ganzen sein soll. Dies wird dadurch vollends bewiesen, dass dieses Bild ebenfalls begleitende Verse hat, die ganz deutlich an die Ansprache des Predigers in Reval erinnern , aber Christus in den Mund gelegt sind.
Wenn es da heisst:
„O Christenmenschen, arme und reiche, seht, wie ich für euch leide und williglich gestorben bin. Ihr müsst alle mit – kommt alle mit mir an den Tanz“
so ist der Unverstand des Mönchs, dem man diese Neuerung zu verdanken hat, genügend gekennzeichnet.
Eigentümlich sind die Berliner Totengestalten. Durchweg feierlich ernst einherschreitend und mit einer Ausnahme alle nach einer Seite gewandt, fallen sie am meisten durch ihr mumienhaftes Aussehen auf. Ich meine damit nicht die übertriebene Magerkeit, die in Berlin übrigens weniger durch die hervortretenden Knochen, als durch die unnatürliche Schmalheit der Schultergegend und des Beckens zu illustrieren versucht wurde, sondern die zwei charakteristischen Merkmale wirklicher Mumien, den eingesunkenen (nicht aufgerissenen) Bauch und den eingetrockneten Kopf. An diesem wird die Mumifizierung der noch vorhandenen Weichteile dadurch kenntlich, dass der Mund, im Gegensatz zur geschwungenen Form der lebenden Lippen, als eine geradlinige Spalte erhalten bleibt und dadurch andererseits sich von der bis zum Ohr reichenden und von den Zähnen eingefassten Lücke zwischen beiden Kiefern unterscheidet, die am nackten Schädel den Mund ersetzt. Auch zeigt sich im Profil bisweilen eine vollständige Nase. Die alte traditionelle Totengestalt war also in Berlin unbekannt und wurde in recht passender Weise durch treue Kopien von mumifizierten Leichen ersetzt.
Das Berliner Gemälde hat aber auch seinen Aufbesserer gefunden, der es für nötig hielt, seine trübe Kunde von einem zweiknochigen Skelett des Unterschenkels zur Vervollkommnung des Bildes zu verwerten: fünf Tote erhielten an Stelle der fehlenden Waden eine dünne Knochenspange aussen angesetzt, als wenn der Unterschenkel ein Knochen, die ganze Mumie ein Skelett wäre!
Demselben Ausbesserer verdankt wohl auch der Tote des Mönchs die Verwandlung der ursprünglichen Vorderseite in den Rücken, infolgedessen das Leichentuch von vorn nach hinten umgelegt ist und die linke Hand am rechten Arm sitzt.
Ebenso stereotyp wie die Toten sind die Lebenden gebildet: Gesicht, Stellung und meist auch die Haltung der Arme und Hände sind durchweg die gleichen; und wenn ich auch nicht leugnen will, dass der milde Ernst und die ideale Stimmung mittelalterlicher Kunst über dem Ganzen lagern, so ist mir doch der frische Sinn für die Charakteristik der individuellen Erscheinung, wovon Lübke spricht, vollkommen verborgen geblieben, um so mehr als die wenigen, vom Schema etwas abweichenden Gebärden, wie beim Kapellan (nach Prüfer), beim Arzt und Wucherer vom Lübecker Gemälde kopiert sind.
Der Lübecker Totentanz hat auch noch weiter als Muster gedient, Die genaueste und wichtigste Kopie war diejenige in Reval , von der leider nur kümmerliche Reste übrig geblieben sind: der Prediger mit den musizierenden Toten und die fünf folgenden Paare vom Papst bis zum König. Nichtsdestoweniger ist das Predigerbild mit dem zugehörigen Text für die Geschichte des Totentanzes, wie wir sahen, dadurch bedeutsam geworden, dass dasselbe Stück in Lübeck verloren gegangen ist. Die fünf Paare mit ihren Wechselreden sind genaue Kopien nach dem Lübecker Gemälde und bezeugen dadurch denselben Ursprung des Predigerbildes.
Es hat sich ferner eine Nachricht von einer Kopie des Lübecker Totentanzes in Wismar (Mecklenburg) erhalten. Viel wichtiger ist es aber, dass vor einiger Zeit in der Marienkirche derselben Stadt die ziemlich gut erhaltenen Reste eines Totentanzes mit einem anderen Inhalt entdeckt wurde. Leider durfte nur ein Teil des Wandgemäldes blossgelegt werden und musste bedauerlicherweise alsbald wieder unter der Tünche verschwinden; nach der von Crull mitgeteilten Durchzeichnung lässt sich aber ganz deutlich die Reihe: Kardinal bis Domherr des alten oberdeutschen Totentanzes wiedererkennen. Es ist nur zwischen Abt und Ritter ein weiterer Geistlicher eingeschoben. Crull setzt die Entstehung dieser Malerei um 1500, eher früher als später an. Durch diesen Befund bestätigt es sich, dass in Norddeutschland noch während des 15. Jahrhunderts neben dem französischen Schauspieltext und seinen Nachahmungen auch der oberdeutsche Totentanz bekannt war.
Aus dem Buch: Holbeins Totentanz und seine Vorbilder (1897), Author: Goette, Alexander.
Siehe auch:
Hans Holbeins Totentanz und seine Vorbilder – Einleitung
Über Inhalt und Ursprung der Totentänze
Die Französischen und Niederdeutschen Totentänze
Der Totentanz von La Chaise-Dieu