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Hans Holbeins Totentanz und seine Vorbilder – Der Lübecker Totentanz
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Clik here to view.u den wenigen Totentänzen, die sich bis zur Gegenwart erhalten haben, gehört das in der Marienkirche zu Lübeck befindliche Gemälde. Es war anfangs auf Holz gemalt, wurde aber wahrscheinlich schon vor der ersten bekannten Ausbesserung (1588) zum erstenmale, 1701 zum zweitenmale auf Leinwand übertragen und dann mit neuen hochdeutschen Reimsprüchen an Stelle des alten niederdeutschen Textes versehen. Wohl schon bei der ersten Übertragung geriet die alte Reihenfolge in Unordnung. Die nach dem ältesten, niederdeutschen Text geforderte Ordnung lässt als 10. bis 13. Paar aufeinander folgen: Karthäuser, Edelmann, Domherr, Bürgermeister, was jetzt im Gemälde umgestellt ist in: Karthäuser, Bürgermeister, Domherr, Edelmann. Auch ist der neue Text von zwei Paaren durch Missverständnis vertauscht, der Spruch des im Bilde unverkennbaren, sporentragenden Kaufmannes wurde unter den „Amtmann“, wie in Norddeutschland der Handwerker hiess, gesetzt und umgekehrt. Endlich wurde 1799 das Bild des Herzogs und eines Toten ausgeschnitten, so dass jetzt die Paare das Bischofs und des Abts aufeinander folgen, ln der Tabelle II ist die ursprüngliche , in den Lithographien des MANTELSschen Buchs die gegenwärtige Reihe des Originals wiedergegeben.
Bei einer jener Übertragungen ist aber noch eine Veränderung des ursprünglichen Bildes eingetreten. Aus dem Vergleiche des gegenwärtigen Lübecker Bildes mit den alten Kopien desselben in Reval (Estland) und der Nachbildung in Berlin (vgl. No. 56, 58) geht mit Sicherheit hervor, dass auch in Lübeck einst vor dem eigentlichen Reigen nicht nur ein Prediger, sondern auch eine musizierende Person zu seinen Füssen, wahrscheinlich ein Toter wie in Reval, vorhanden war. Statt dessen zeigt sich jetzt an jener Stelle eine Totengestalt als Vortänzer des ganzen Reigens, die aber ein späterer Zusatz, wahrscheinlich des Kopisten Wortmann, ist, der im Jahre 1701 die zweite Übertragung des Gemäldes auf Leinwand ausführte. Dies scheint mir schon daraus hervorzugehen, dass diese Gestalt durch ihren Federhut und das Leichentuch, sowie durch ihre ganze Haltung vollkommen mit dem ersten der drei kleinen Figürchen übereinstimmt, die im landschaftlichen Hintergründe hinter dem Wucherer zu sehen sind und sowohl als ganz überflüssige Zuthat, wie insbesondere wegen der modernen Tracht der Frau nur von einem späteren Restaurator herrühren können. Im übrigen kann aber die Kopie des eigentlichen Totentanzes von 1701 sowohl nach den alten Trachten w ie nach der Übereinstimmung mit den Resten des Reval er Bildes zu schliessen, als eine sehr treue Wiederholung des Originals bezeichnet werden. Soweit ich sehe, hat sich nur ein grober Zeichenfehler eingeschlichen: der Tote des Wucherers ist mit seinem ganzen Oberkörper in der Vorderansicht gemalt, die Beine und Füsse zeigen sich dagegen ebenso vollständig in der Ansicht von hinten. Natürlich rührt das von einer handwerksmassigen Ausbesserung her.
Der erste niederdeutsche Text des Lübecker Gemäldes ist in seiner Form dem französischen Schauspiel nachgebildet. Aus einzelnen abweichenden Sprachformen schliesst Seelmann, dass ein niederländisches Mittelglied angenommen werden müsse, dessen Übersetzung oder Bearbeitung jener Lübecker Text sei. Ich halte diese Voraussetzung nicht für nötig, da bei dem Fehlen jeder Kenntnis von einem so alten niederländischen Totentanz es viel einfacher und natürlicher ist, auch für Lübeck das anzunehmen, was in dem ganz analogen Fall in Basel für sicher gilt, dass nämlich die fremden Sprachformen durch den Künstler hineingebracht wurden, der ja nicht nur das Bild, sondern auch den Text darunter malte, und in Lübeck, bei dessen regem Verkehr mit den Niederlanden, ganz naturgemäss von dort eingewandert oder berufen sein konnte. Auch hat auffallenderweise Seelmann selbst an jener seiner Ansicht nicht festgehalten, indem er an einer anderen Stelle seiner Abhandlung als „sichere Thatsache“ hinstellt, dass der in Rede stehende Text „die Übersetzung einer altfranzösischen, für die szenischesche Aufführung verfassten Dichtung des 14. Jahrhunderts ist“. Aber auch hierin geht Seelmann zu weit. Sicher ist nur, dass der Lübecker Totentanz die allgemeine Form des französischen Schauspieltextes, die einleitenden Worte und eine Anzahl von Szenen beibehielt; die Identität des beiderseitigen Inhalts ist aber nicht nur völlig unerwiesen geblieben, sondern kann jetzt, nachdem der Inhalt des Schauspiels aus dem Vergleich der drei französischen Gemälde mit ziemlicher Evidenz festgestellt werden konnte, direkt widerlegt werden. Im Schauspiel treten auf: ein Prediger mit einem Musiker, darauf die 30 in Paris wiederkehrenden Paare, endlich die Gruppe der unbenannten Stände und der zweite Prediger. Lübeck liess, ausser diesen zwei letzten Szenen, von den 30 Ständen den Patriarch, Erzbischof, Advokat, Spielmann, Mönch, Franziskaner, Lehrer, Sergeant fallen und ersetzte sie durch die Kaiserin und die Jungfrau, die wie alle Frauen überhaupt im ursprünglichen französischen Totentanz fehlten. Die auf diese Weise herbeigeführte Verminderung der Zahl der Paare auf 24 kann keine zufällige sein, da sie sich in den geschriebenen und xylographischen oberdeutschen Totentänzen wiederholt (Wackernagel); man strich also sechs Paare der Vorlage, um die irgendwie bedeutsame Zahl 24 zu erhalten, sowie zwei weitere männliche Stände den beiden Frauen weichen mussten, und die Schlussscenen ohne ersichtlichen Grund fielen. Alle diese vom Lübecker Dichter vorgenommenen Abänderungen beweisen seine Eigenmächtigkeit in der Behandlung des ihm vorliegenden Originals und lassen es verstehen, dass er auf der anderen Seite mit gleicher Freiheit aus anderen Quellen entlehnte. Für die Figuren der Kaiserin und der Jungfrau steht es fest, dass sie um die Mitte des 1 5. Jahrhunderts, als das Lübecker Gemälde entstand, nur im oberdeutschen (Kleinbaseler) Totentanz vorkamen, also nur von dort nach Lübeck übertragen sein können; und dasselbe wird auch für den vielbesprochenen Vers des Kindes gelten, wenn es überhaupt feststände, dass er im alten Lübecker Text vorhanden war. In der einzigen bekannten Abschrift des letzteren, die von v. Melle herrührt — das Bruchstück in Reval enthält nur die fünf ersten Wechselreden — befand sich jener Vers ursprünglich nicht, sondern ist erst nachträglich hinzugefügt und gehörte nur nach einer unverbürgten Überlieferung zu jenem Text . Wie dem aber auch sei, so existierte er doch lange vor der Entstehung des Lübecker Gemäldes in den zahlreichen Handschriften und Blockbüchern des oberdeutschen Totentanzes; und dass diese in der That bis nach Norddeutschland gelangten, beweist der Umstand, dass dem im Wismar um 1500 gemalten Totentanz zweifellos jener oberdeutsche Text zu Grunde lag (s. u.).
Trotz dieser verschiedenen Einflüsse bei der Herstellung des Lübecker Totentanzes lässt sich noch immer erkennen, dass der Dichter wenigstens in der ersten Hälfte seines Textes die Pariser Reihenfolge zum Vorbilde nahm. Durch die Einschiebung der Kaiserin wurde allerdings der regelmässige Wechsel von Geistlichen und Weltlichen gleich im Anfänge unterbrochen und durch den Fortfall von Patriarch und Erzbischof die Reihe der Geistlichen verschoben, indem an ihre Stelle Bischof und Abt, und auf die Plätze der letzteren Karthäuser und Domherr vorrückten. Um so wichtiger ist dagegen die volle Übereinstimmung von Lübeck und Paris in der Reihe der weltlichen Männer derselben ersten Hälfte, indem an zwei Stellen der französische Einfluss besonders auffällig hervortritt: ich meine den Vortritt des Kardinals vor dem Könige, was im oberdeutschen Totentänze umgekehrt ist, und dann den Vortritt des Ritters und des Edelmannes vor dem Bürgermeister, was der Verfassung Lübecks widersprach, so dass Mantels dies geradezu durch eine spätere, freilich gar nicht verständliche Verwechselung erklären wollte. Beides war aber nur die Folge davon, dass der Lübecker Dichter, wo er nicht strich oder Neues einschob, meist an der Reihenfolge seiner Vorlage, die ebendieselbe war wie in Paris, festhielt. In der zweiten Hälfte des Gemäldes gestattete er sich eine weitgehende Abweichung von der Pariser Reihe, was durch den Ausfall von sechs Pariser Gestalten (Lehrer, Sergeant, Mönch, Advokat, Spielmann, Franziskaner) allein nicht zu erklären ist, weil auch die übrigen, beiderseits übereinstimmenden Personen in ganz verschiedener Weise aufeinander folgen Es ist hier vielmehr mit der ganz allgemeinen, bei allen Nachahmungen eines Totentanzes und in jeder Hinsicht sich wiederholenden Thatsache zu rechnen, dass die Abweichungen, sich im fortschreitenden Verlauf der Kopie steigern, wohl infolge der abnehmenden Befangenheit des Kopisten, weshalb auch die anfängliche Übereinstimmung für den Vergleich von grösserer Bedeutung ist als die spätere Divergenz.
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So viel vom Inhalt und Text des Lübecker Totentanzes, woraus deutlich hervorgeht, dass der Dichter den französischen Schauspieltext., ob nun unmittelbar oder in einer Übersetzung, jedenfalls in derselben ursprünglichen Fassung, wie sie auch dem Pariser Künstlervorlag, bearbeitete, dabei dessen dramatische, für das Gemälde unpassende Form unüberlegterweise beibehielt, dafür aber den Inhalt durch Kürzungen und Entlehnungen aus anderen Quellen veränderte.
Von dem Bilde sagt Seelmann nur, dass es durch seine burgundisch – niederländischen Trachten auf ein Vorbild in den Niederlanden schliessen lasse. Aber auch abgesehen davon, dass wir von solchen niederländischen Gemälden jener Zeit nichts wissen, scheint mir jene Annahme überflüssig. Denn die burgundischen brachten waren zu jener Zeit die allgemeine Mode, konnten also auch in Lübeck bekannt sein; und selbst eine spezifisch niederländische Tracht würde sich auf das einfachste so erklären wie die niederländischen Sprachformen des Textes, nämlich dadurch, dass ein niederländischer Maler das Gemälde anfertigte. Wichtiger scheinen mir die positiven Aufschlüsse zu sein, die uns das Lübecker Bild giebt. Da muss vor allem der vollständig durchgeführte Kettenreigen auffallen Es wurde schon erwähnt, dass, wenn auch die Vermehrung der Totengestalten und ihre paarweise Verbindung mit den Lebenden ganz unerlässlich war, die Verbindung aller Paare zu einem Kettenreigen doch nur einer individuellen Auffassung des Malers entsprach, der dadurch die Einheit des ursprünglichen Dramas im Bilde andeuten wollte. ln Frankreich war ein solcher mehr oder weniger voll-ständige Kettenreigen erst infolge einer Tradition die Regel; alle oberdeutschen Bilder ersetzten ihn durch die natürlichere Darstellung getrennter Paare. Folglich schloss sich Lübeck darin den französischen Gemälden an. Betrachtet man ferner die übrige Haltung, die Kleidung und namentlich die Attribute der Lebenden und Toten im Lübecker und allen anderen älteren Totentänzen, so findet man eine grosse Zahl von Übereinstimmungen ausschliesslich zwischen Lübeck und Paris, die auf eine andere Art als durch direkte Entlehnung nicht erklärt werden können, in der folgenden Tabelle sind mehrere dieser Merkmale der Lebenden zusammengestellt, deren Zusammentreffen in Paris und Lübeck nicht zufällig sein kann, da sie nicht bloss in Klein-Basel und den alten deutschen Holzschnitten, sondern selbst in Kermaria, einer Nachahmung der Pariser Danse macabre und in La Chaise-Dieu fehlen.
Eine weitere Bestätigung des Gesagten finden wir bei den Totengestalten, die in Lübeck im allgemeinen ebenso gebildet sind, ebenso häufig tanzen und ebenso nur Attribute des eigentlichen Todes tragen wie in Paris, wogegen die Toten der übrigen Totentänze bei anderer Körperbildung selten oder gar nicht tanzen und statt jener Attribute allenfalls Musikinstrumente führen.
Und alle diese Übereinstimmungen der Pariser Danse macabre und des Lübecker Bildes sind um so bedeutsamer, als sie sich keineswegs einfach aus dem Text ergeben, sondern notwendig ein gemaltes Vorbild des Lübecker Malers voraussetzen. Selbst eine wirkliche Aufführung des Schauspiels konnte nur einen Feil aller jener Merkmale zur Darstellung bringen; dagegen konnte dort weder der Tod mit allen seinen verschiedenen Attributen, noch das Kind in der Wiege auftreten, die Gebärden stehender Figuren wie des Arztes waren ausgeschlossen u. A. m. Daher schliesse ich aus diesen Vergleichen unbedenklich, dass der Maler des Lübecker Bildes das Pariser oder ein ihm in allen Stücken völlig gleiches Bild kannte und nach dem Gedächtnis oder einer Skizze benutzte. Natürlich werden dadurch auch die Ergebnisse über den Ursprung des Lübecker Textes wesentlich unterstützt, so dass wir zwischen dem Lübecker und dem Pariser Totentanz dieselbe nahe Verwandtschaft annehmen müssen wie etwa zwischen den zwei Baseler Gemälden.
Durch diesen Nachweis wird die Ansicht Wackkrxagkls, dass der Lübecker Totentanz bis in das 14. Jahrhundert zurückreiche, sowie die Vermutung Skelmanxs, dass er ein aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts stammendes Vorbild gehabt habe, widerlegt. Die Frachten, insbesondere diejenige des Edelmannes und des Jünglings, gehören der Mitte und der zweiten 1 hälfte desselben Jahrhunderts an2). Das meist angegebene Datum 1463 ist vielleicht nur ein sagenhaftes (Mantels) ; und so wird man bei der allgemeinen Bestimmung der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts stehen bleiben müssen, was mir auch Mantels eigentliche Ansicht zu sein scheint.
Aus dem Buch: Holbeins Totentanz und seine Vorbilder (1897), Author: Goette, Alexander.
Siehe auch:
Hans Holbeins Totentanz und seine Vorbilder – Einleitung
Über Inhalt und Ursprung der Totentänze
Die Französischen und Niederdeutschen Totentänze