ER Holbeins „Totentanz“ zur Hand nimmt und auch nur flüchtig durchblättert, wird sich dem Eindruck nicht entziehen können, dass „in diesen kleinen Blättern eine Welt von Gedanken und Beziehungen mit höchster Meisterschaft zusammengefasst ist“. Diese überquellende Fülle echt künstlerischer Darstellung hat auch nach Jahrhunderten ihren Reiz nicht eingebüsst, und immer wieder tönt HolüiEixs Lob, so oft nur der Name Totentanz genannt wird. Und doch ist der Gegenstand dieses seines Meisterwerks nicht das, was man unter einem Totentanz versteht. Mehr als einmal ist von massgebender Seite darauf hingewiesen worden, dass Holbein, obschon er an den alten Totentanz anknüpfte, dessen traditionelle Gestalt so völlig umwandelte, dass davon nichts übrigblieb als die Darstellung des Todes selbst — Bilder des Todes, Imagines mortis, wie der Titel der alten Ausgaben lautete. So einfach liegt nun die Sache nicht Selbst ein flüchtiger Beschauer wird bei manchem Bilde des Hohlbeinschen Cyklusvergeblich nach einer Erklärung suchen, wenn er die mittelalterlichen Totentänze nicht kennt, aus denen Holbeix schöpfte. Die bildliche Veranschaulichung des Todes als eines Gerippes ist uns freilich so geläufig, dass jedermann unbedenklich die eigentümlichen Totengestalten I Ioi.beixs in diesem Sinne ansprechen wird. Was bedeuten aber die Musikinstrumente, auf denen so viele dieser Gestalten spielen, was ihr gelegentliches Springen und Tanzen, was bedeutet vor allem das „Beinhaus“ genannte Bild mit der grossen Zahl von musizierenden Gerippen, die zu einem konkreten Todesvorgange in gar keiner Beziehung stehen ?
Wem Holbeins Bilder es bereits angethan haben, wird über diese und ähnliche Fragen nicht achtlos hinweggehen; mit dem Genuss des Beschauens steigert sich auch das Verlangen, dem Künstler auf jedem Schritte nachzugehen, sich ganz in seine Anschauungen hineinzufinden. Diese lassen sich aber nicht unmittelbar enträtseln, weil sie nicht bloss der genialen Laune des Meisters entsprangen, sondern die reife Frucht jener älteren Vorstellungen dieser Art in den mittelalterlichen Totentänzen sind, die Holbein in seinem besonderen Sinn und für seine rein künstlerischen Zwecke verwertete. Ohne Kenntnis dieser älteren Totentänze ist daher ein volles Verständnis seines ähnlichen Werkes unmöglich.
Indessen hätte mir als einfachem Liebhaber der Kunst die Auskunft genügen können, die sich in Woi.tmanns „Holbein und seine Zeit“ findet, wenn die in diesem Buch enthaltenen abfälligen Bemerkungen über Holbeins Totengestalten mich nicht stutzig gemacht hätten. Ich glaubte zu erkennen, dass Holbein so arg blossgestellte anatomische Kenntnisse doch nicht unerheblich diejenigen seines Biographen und Kritikers übertrafen, und dass diesem nur die künstlerische Verwertung dieser Kenntnisse durch Holbein entgangen war. Eine häufig wiederholte Prüfung der Bilder vermehrte auch nach anderen Richtungen das Verzeichnis der Beobachtungsfehler Wolt-manns und veranlasste mich, andere Quellen zu Rate zu ziehen. Ich fand aber nicht ganz, was ich suchte. Die verwandtschaftlichen Beziehungen der verschiedenen Totentänze haben sich im Verlauf der zahlreichen darauf gerichteten Untersuchungen allerdings ganz wesentlich geklärt. Dies betraf aber hauptsächlich die Geschichte der Dichtung, die mit den Bildern verbunden war oder neben ihnen herging; diese letzteren wurden eigentlich nur so weit berücksichtigt, als sie durch ihren formalen Inhalt jene Geschichte erläuterten, eine selbständige Würdigung erfuhren sie in der Regel nicht. Mit einem Wort: die Geschichte des in den verschiedensten Kunstformen (Dichtung, Schauspiel, Bild, Skulptur) verwerteten Totentanzes ist hauptsächlich im genealogischen Sinne ausgebaut; seine ästhetische Seite, die freilich nur in den Bildern sich bis zum vollendeten Kunstwerk entwickelte, wurde wenig berührt, am wenigsten im geschichtlichen Zusammenhang verfolgt. So kann es auch nicht wunder nehmen, dass man in jener Geschichte über Holbeins Totentanz, der sie doch eigentlich abschliesst, kaum mehr erfährt als das allgemeine Lob, das ihm niemals gefehlt hat. Und diese Vernachlässigung der künstlerischen Seite des Totentanzes ist kein Zufall.
Bei der Untersuchung der Totentanzbilder begegnet auch der eigentliche Kunstforscher einer Schwierigkeit, die ihm in ähnlichem Masse nirgends aufstösst: ohne eine gründliche Kenntnis des anatomischen Baues ist eine Beurteilung der Totengestalten, insbesondere der Hoi.iuaxsehen, ganz illusorisch. Und zwar rcieht dazu, w ie sieh zeigen wird, ein Vergleich mit richtigen Skelettbildern oder mit wirkliehen Skeletten keineswegs aus, sondern es ist dazu die Beherrschung der ganzen plastischen Anatomie erforderlich, wie man sie ausser bei Fachmännern wohl nur bei den Künstlern selbst antrifft. So habe ieh denn aueh nicht gefunden, das ein Vorgänger oder Nachfolger Woltmanns die Totengestalten Holueins richtiger gedeutet oder denen der älteren Totentänze auch nur eine grössere Aufmerksamkeit ge-sehenkt hätte. Und ich darf hinzufügen, dass ich in den bezüglichen Schriften auch in anderen Stücken die seharfe gegenständliche Beobachtung vermisse, die bei den Totentanzbildern mehr wie bei anderen Bildwerken erwünscht ist. Unter diesen Umstamden war nicht nur eine zutreffende grundsätzliche Auffassung jener Bilder ersehwert oder ausgeschlossen, sondern es entging den Forschern auch ein wichtiges Mittel der historischen Kritik.
Diese an sich ganz natürlichen Verhältnisse mögen es rechfertigen, dass ich bei einiger Vertrautheit mit den angedeuteten anatomischen Studien es versucht habe, in einem mir sonst fremden Gebiet historischer Forschung da ergänzend einzugreifen, wo solche Studien unerlässlich sind. Ob diese Ergänzungen anerkannt werden, muss sieh freilich erst zeigen; gleichgültig kann aber meines Erachtens nichts sein, was auf die Geschichte der Totentänze auch nur einiges Lieht zu werfen imstande ist. Denn indem sie durch Jahrhunderte Sinn und Geist zweier grosser Nationen mächtig fesselten und zu den ausdauerndsten Darstellungen der Kunst in dei grossen Volksmasse gehörten, gebührt ihnen die Beaehtung als einer der wirksamsten kulturgeschichtlichen Erscheinungen jener Zeiten.
Mein eigentlicher Vorwurf waren und blieben freilich Holueins Totentänze; was ieh vorausschieke, hielt ieh teils zum Verständnis ihrer Entstehung für nötig, teils sehliesst es sich, wenn auch für diesen Zweck weniger erheblich, an das übrige natürlich an. Überall hielt sieh aber die Untersuchung, umgekehrt wie es bisher geschah, wesentlich an die Totentanzbilder, an ihre Auffassung und Ausführung; dies und vollends die dabei durchweg geübte Methode verlangten als ganz unerlässlich die Zugabe zahlreicher Abbildungen. Das dankenswerte Entgegenkommen des Herrn Verlegers machte es möglich, dazu die noch vorhandenen Originale, und soweit dies ausgeschlossen war, die besten Reproduktionen zu benutzen.
Vor allem sind hier die sämtlichen Holbeinschen Totentänze zu nennen, die nach den besten Exemplaren des Berliner Kupferstichkabinetts und der Bauakademie in Berlin, sowie des Dresdener Museums wiedergegeben sind, hier zum erstenmal ganz vollständig und in einem Werke vereinigt. Die nächstwichtigen Basler Totentänze sind bekanntlich nur in den Büchel sehen Kopien auf uns gekommen; diese sowie die alten Münchener Holzschnitte des Totentanzes konnte ich hier am Orte kopieren lassen, dank der Liebenswürdigkeit der Vorstände der Münchener und der Basler Bibliothek sowie der Kunstsammlung in Basel; Die Heidelberger Holzschnitte und einige Basler Handzeichnungen (von Manuel und Holbein, ferner das Basler Exemplar der Dolchscheide) wurden nach Originalphotographien kopiert. Für die übrigen Abbildungen konnten zum Teil ebenfalls Originale oder die davon allein erhalten gebliebenen Reproduktionen benutzt werden
Aus technischen Gründen mussten allerdings für die eigentlichen Textbilder in der Regel Federzeichnungen angefertigt werden. Ich lege aber einiges Gewicht darauf, dass diese Zeichnungen mit aller Sorgfalt unter meiner ständigen Aufsicht hergestellt sind; denn ich habe nicht selten gefunden, dass auch unscheinbare Inkorrektheiten früherer Kopien eine richtige Auffassung der Bilder ganz erheblich beeinträchtigten.
Aus dem Buch: Holbeins Totentanz und seine Vorbilder (1897), Author: Goette, Alexander.