II
Hans Holbeins Totentanz und seine Vorbilder – Die Französischen und Niederdeutschen Totentänze
Rotz zahlreicher Nachforschungen ist der Ursprung des Wortes macabre noch immer zweifelhaft; sicher ist nur, dass es schon im 14. Jahrhundert bekannt und „Danse macabre“ damals der Name des Schauspiels des Totentanzes war. Ebenso sicher ist heutigen Tages, dass ein Wandgemälde dieses Inhaltes und Namens mit einem begleitenden Text auf dem Kirchhofe des Innocents in Paris hergestellt wurde. Die urkundlichen Beweise dafür sind am vollständigsten angegeben in der neuesten Ausgabe dieser Danse macabre von Dufour . Jenes Gemälde ist aber schon im 16. oder 17. Jahrhundert zu Grunde gegangen und uns nur durch Kopien bekannt, die als Holzschnitte mit typographischem Text von 1485 an in Paris und mehreren anderen Städten erschienen.
Die Identität dieses gedruckten und des auf dem Gemälde befindlich gewesenen, angeblich von dem Geistlichen Gerson 1425 verfassten Textes ist urkundlich beglaubigt und dadurch bestätigt, dass eine noch vor 1430 verfasste englische Übersetzung bis auf einige leicht kenntliche Einschaltungen (drei Krauen, Zauberer, Richter) mit dem gedruckten Text übereinstimmt . Auch die Holzschnitte sind bisher immer für Kopien des Wandgemäldes angesehen worden, ohne dass man direkte Beweise vorzubringen wusste. Solche können aber aus den Trachten der Holzschnitte mit grösserer Sicherheit als ähnliche Zeitbestimmungen hinsichtlich eines anderen Totentanzes entnommen werden. 1) Die Weltlichen unserer Danse macabre tragen meist das lange talar-ähnliche Obergewand (houppelande) oder die gegürtete housse, die in Paris bis gegen 1430 herrschten, dann aber ahnahmen.
2) Andererseits kamen auf Veranlassung Karls VII. (1422—1461) die hohen Hüte und das kurz geschorene Haar auf, wovon auf unseren Bildern nichts zu sehen ist. Die Spitz- oder Schnabelschuhe, die von ca. 1350—1500 trotz aller Verbote herrschten, wurden in Paris 1422 durch ein strenges Edikt wenigstens für kurze Zeit unterdrückt ; in der Danse macabre kommt keine Spur eines Schnabelschuhes vor. Diese drei Punkte, namentlich der letzte, beweisen, dass die Trachten der Danse macabre nur der Zeit von 1422 bis gegen 14,30 angehören können. Und da es ganz ausgeschlossen ist, dass der Zeichner der Holzschnitte von 1485 jenes alte Zeitkostüm selbständig wiedergab — damals wurde in allen selbständigen bildlichen Darstellungen ausschliesslich das zeitgenössische Kostüm angewendet , so kann er es eben nur nach einer Vorlage aus der Zeit jener Trachten, also nach dem Gemälde von 1425 kopiert haben. Mit den Miniaturen, die sieh in einer wenig älteren französischen Handschrift der Danse macabre befinden und wovon Kastmr in seiner eine Probe mitteilt, stimmen unsere Holzschnitte nicht überein.
Doch lässt sich nur die erste Ausgabe der Danse macabre von 1485, wovon bloss das Unicum in Grenoble bekannt ist, als treue Kopie des. alten Gemäldes bezeichnen. Die späteren Ausgaben erhielten fortgesetzt Vermehrungen, die nicht nur nach dem handschriftlichen Urtext und der englischen Übersetzung, sondern auch nach einer direkten Nachricht dem Original fehlten. Ein Chronist nämlich giebtl wie es scheint als Augenzeuge, die Zahl der im Wandgemälde vorhandenen Strophen auf 68 an , was aber nur mit der ersten Ausgabe übereinstimmt, während diese Zahl schon in der zweiten Ausgabe erheblich überschritten wurde. Jenes Unicum von 1485 ist angeblich zweimal faksimiliert worden, einmal von Lk Roux de Lixcv und Tisserand , die aber die Vermehrungen der zweiten Ausgabe von i486 hinzufügten, und dann 1875 separat und in Verbindung mit Dueours Abhandlung . Die erstgenannten Autoren haben die Holzschnitte, wie es scheint, in der ursprünglichen Grösse heliographiert; ob nach der ersten oder nach der zweiten Ausgabe, ist in so fern gleich, als alle Bilder der ersten in die nächstfolgenden Ausgaben übergingen und nur vermehrt wurden. Dagegen sind im Text nicht nur die neuen Stücke der zweiten Ausgabe hinzugefügt, sondern auch gewisse Abänderungen des Urtextes vorgenommen, auf die ich noch zurüekkommc, so dass trotz der gegenteiligen Versicherung in jenem Prachtwerk der Originaltext der Danse macabre nicht genau w-icdergcgcbcn ist. Das neuere Faksimile bringt den Text der Handschriften, aber verkleinerte und weniger gute Abbildungen. Es ist daher für die Bilder die erstgenannte Publikation (1867), für den Text die spätere (1875) zu benutzen.
Dieser letztere Neudruck der Danse macabre nennt, auf die Autorität von Lacroix und Dufour gestützt, als selbständigen Verfasser des Textes Jean- Gerson, der 1425 durch ein angeblich kurz vorher zum Gedächtnis des ermordeten Herzogs von Orléans gemaltes I odesbild zur Dichtung des Totentanzes veranlasst worden sei . Diese schon an sich unhaltbare Hypothese wird durch den Nachweis des alten Schauspieles vollends beseitigt. Auch kann der Text von 1425 nicht einmal eine freie Nachahmung, sondern nur eine Anpassung des Schauspieltextes an das Gemälde sein, indem noch die alte Reimordnung in den achtzeiligen Strophen, wahrscheinlich ganze Verse und an mehreren Stellen noch die alte Einrichtung mit dem nach zwei Seiten hin sprechenden Tod aus dem Schauspiel in den neuen Text übergingen . Dies letztere geschah in der Weise, dass die an den Karthäuser, den Franziskaner und den Eremiten gerichteten Anreden der Toten mit einem letzten Bescheid an .die vorausgehenden Personen (Kaufmann, Bauer, Küster) beginnen. Es zeigt sich darin die grosse Flüchtigkeit des Bearbeiters, von dem man daher annehmen kann, dass er im allgemeinen nicht viel mehr that, als von den Doppelanreden des Todes im Schauspiel mit den eben genannten Ausnahmen je den ersten Teil zu streichen und so für jedes Paar des Bildes in zwei Strophen eine einfache Ansprache des Toten und eine Antwort seines Partners herzustellen. Es scheint mir daher undenkbar, dass ein nicht unbekannter Schriftsteller wie Gerson den neuen Text selbst zusammengestellt habe ; wogegen es möglich ist, dass er die ganze Darstellung ver-anlasste. Dafür spricht ausser gewissen unsicheren Nachrichten über seine Autorschaft der Umstand, dass im Pariser Gemälde an Stelle der zwei Prediger des Schauspiels der geistliche „Verfasser“ (Acteur) und der „Maistre“ treten, beide durch ihre Umgebung als Gelehrte gekennzeichnet.**) Von besonderen Anpassungen des alten Textes an das Gemälde wären dann als einzig sichere noch zu nennen die Hinweise auf das letztere statt auf das Schauspiel in der Einleitung und am Schluss, und die Strophen des Armen und des toten Königs .
Das Faksimile der ersten Buchausgabe besteht aus siebzehn Bildern, nämlich dem eigentlichen Totentanz (fünfzehn Bilder) einem einleitenden und einem Schlussbilde . Zu jedem Bilde gehören in der Regel vier achtzeilige Strophen; nur das erste hat ihrer bloss zwei, während das elfte und das sechzehnte noch je eine fünfte Strophe enthalten. Das einleitende Bild zeigt uns den Verfasser (Lacteur), einen Mann in geistlicher Tracht, der vor einem Lesepult sitzt, umgeben von Bücherkisten. Als Vertreter des ersten Predigers im Schauspiel verweist er im Text die Beschauer auf die folgenden Totentanzbilder als einen Spiegel des Schicksals aller Menschen, jedes Standes und Geschlechts; ein weiterer Hinweis auf die ernste Lehre des Gemäldes (Hec pictura) findet sich in lateinischer Sprache auf dem Spruchband, das ein Engel über dem Verfasser hält
Im Schlussbilde richtet ein „Maistre“ (der zweite Prediger des Schauspiels) in ähnlicher Tracht und Umgebung wie der Verfasser seine Ermahnungen an die Vorübergehenden (vous qui ey passes). Ein vor ihm auf dem Boden liegender Toter (Ung roy mort) zeigt auf die neben ihm befindliche Königskrone, die ihn im Leben schmückte, und fügt mit Bezug auf seinen gegenwärtigen Zustand hinzu: ,,Tel serez vous Bons et pervers: tous estres sont a vers donnes“ . Zweifellos ist dies eine Reminiscenz an die alte Legende von den drei Toten und drei Lebenden; denn ähnliche Worte finden sich nicht nur in der Wiederholung dieser Legende in den späteren Drucken der Danse macabre, sondern schon in dem alten Badenweiler Gemälde aus dem Anfang des 14, Jahrhunderts, wo die Toten den Lebenden Zurufen: „Der wir sind, das werdent ir“ und „die Würmer nagent min bein“ (Lübkk). Diese Episode des toten Königs kann nicht aus dem alten Schauspiel stammen, schon weil sie zur scenischen Aufführung, in der sich die Personen am Beschauer vorbei-bewegten, nicht geeignet ist ; dann aber auch, weil sie gar nicht zum Totentanz gehört und daher in keinem anderen Totentanzbilde vorkommt Andererseits ist aber die Einreihung dieser Episode in das Pariser Gemälde von 1425 ganz verständlich, wenn man weiss, dass an derselben Kirche, deren Kirchhof dieses Gemälde enthielt, sich eine Skulptur jener Legende befand .
Von den fünfzehn Bildern des eigentlichen Totentanzes enthält jedes in einer Umrahmung von Säulen und Bögen zwei Tote und zwei Lebende (nur Männer); der erste Tote fasst einen Lebenden, der darauf folgende Tote diesen und den zweiten Lebenden, so dass auf jedem Bilde ein zusammenhängender oder Kettenreigen von zwei Paaren entsteht . Merkwürdigerweise giebt der schon erwähnte Chronist an, die Danse macabre in Paris sei in zehn Arkaden des Kirchhofs gemalt gewesen, so dass in den sechs ersten je sechs Strophen (natürlich mit den zugehörigen Personen), in den vier letzten je acht Strophen \orhanden waren . Dies stimmt mit der gleichen Zahl 68 der gedruckten Strophen, aber nicht mit ihrer Verteilung auf die siebzehn getrennten Bilder überein. Überträgt man jene vom Chronisten angegebene Einteilung auf den gedruckten Totentanz, so ergäbe sich nicht nur eine ganz andere Verbindung der Paare, sondern auch vom zwölften Bilde an eine dreimalige Trennung eines Toten von seinem Partner, — eine natürlich ganz unmögliche Einteilung. Dieser Widerspruch löst sich aber sehr einfach, wenn man berücksichtigt, dass die zehn Arkaden des Kirchhofs, die das Gemälde und die Strophen enthielten, und die arkadenartige Umrahmung der Holzschnitte, die den Text nicht mit umschliesst, gar nicht dieselbe Bedeutung haben können. Jene zehn Arkaden waren offenbar die Bogenöffnungen des Kreuzganges, an dessen Hinterwand die Danse macabre gemalt war, so dass ihre natürliche Gruppierung mit den Bogenöffnungen nicht übereinzustimmen brauchte. Auch liegt es auf der Hand, dass die Säulen und Bögen der Bilder nur gemalt wvaren; denn verschiedene Gegenstände der letzteren reichen bis vor die Säulenbasen, die also in der Bildfläche lagen.
Die geschilderte Verbindung der beiden Paare jedes Bildes ist wahrscheinlich eine Reminiscenz an das Schauspiel, an den Verkehr des einen Todes mit allen Lebenden, was in anderen Totentänzen in einem einzigen Kettenreigen zum Ausdruck kam. Dies war freilich inhaltlich überflüssig, nachdem jene fortlaufende Handlung im Gemälde durch die Unterhaltungen der einzelnen Paare ersetzt war, ist aber offenbar durch die Absicht motiviert, dem Bilde den Eindruck der Einheit zu erhalten. Der nicht ungeschickte Pariser Maler verfuhr jedoch künstlerischer als seine Nachfolger, indem er den Reigen durch die Einrahmungen der fünfzehn Bilder regelmässig unterbrach : es geschah offenbar, um die kleineren Gruppen freier gestalten zu können und so die ermüdende Gleichförmigkeit des Reigens zu beseitigen4).
Daher Anden sich auch manche Ausnahmen von der beschriebenen Anordnung : auf dem zweiten Bilde sind beide Paare — Papst, Kaiser — getrennt, und auf dem elften und sechzehnten Bilde befinden sich, wie schon erwähnt, fünf Personen. Der arme Mann, der beim Wucherer Geld leiht, dient bloss zu dessen Charakterisierung und nimmt am Totentanz selbst nicht teil ; er kann daher auch nicht im Schauspiel vorgekommen sein, sondern ist eine Erfindung des Malers. Auf dem sechzehnten Bilde schliesst als fünfte Person wieder ein Toter die ganze Reihe des Totentanzes , so dass dieser einen Toten mehr zählt als Lebende.
Zur Belebung der langen, gleichmässigen Reihe diente auch der Wechsel von geistlichen und weltlichen Personen in der Reihenfolge der Paare, wobei Lehrer und Arzt wie üblich zur ersten Kategorie zählen. Doch wird dies, nach dem Lübecker und dem spanischen Text zu schliessen, schon dem alten Schauspiel eigen gewesen sein. Im Gemälde finden sich übrigens Ausnahmen davon, indem auf dem fünfzehnten Bilde der Advokat den Geistlichen vertritt und auf dem sechzehnten Bilde der Eremit an der Stelle eines Weltlichen steht. Alle Lebenden sind in verhältnismässig ruhiger Stellung wiedergegeben und meist nur durch ihre Tracht und ihre Attribute kenntlich ; bloss der Wucherer, der noch angesichts des Todes ein Geldgeschäft abschliesst, und der Arzt, der den Urin im Glase prüfend betrachtet, sind in ihrer Berufsthätigkeit dargestellt. Bezeichnend ist auch die Darstellung des Kindes in der Wiege.
Die Toten zeigen die für die alten Totentänze angegebene Körperbildung: es sind fleischige Leiber mit scheinbar nackten Totenschädeln. Die letzteren können aber nicht wirklichen Schädeln nachgebildet sein; denn wenn sie auch in der Vorderansicht durch die Andeutung der Augenhöhlen und der Löcher in der Nasen- und Mundgegend einen Schädel eben noch kenntlich machen, so misslingt dies doch dem Künstler in der Profilansicht der Köpfe, weil er dabei aus Unkenntnis immer die ganze Nase gezeichnet hat . Dies lässt darauf schliessen, dass auch die Vorbilder nur in der Vorderansicht eine Schädelähnlichkeit hatten, also wahrscheinlich die oben geschilderten Masken des Schauspiels waren. Für den übrigen Körper konnte sich der Künstler an dasselbe Vorbild im Schauspiel nicht halten und musste daher ebenso wie die Miniatoren wirkliche Leichen nachzuahmen suchen. Darauf deutet der grosse Bauehschlitz, die Magerkeit des Körpers und die Querteilung der Gelenke an den Totengestalten. In diesem letzteren Merkmal möchte Frimmei, den misslungenen Versuch einer Skelettzeichnung erblicken; für unser Wandgemälde kann dies aber nicht zutreffen. Denn die Gelenkteilungen sind dort nicht regelmässig ‚ vorhanden — selten an der Schulter, häufiger am Ellenbogen, meist an den übrigen Gelenken — und wechseln die .Stelle an demselben Gelenk; dann ist aber auch das Muskelrelief so kräftig und detailliert hervorgehoben, dass der Maler unmöglich die Vorstellung eines Skeletts damit verbinden konnte. Es sollten wohl nur die Gelenkstellen besonders scharf markiert und dadurch der Eindruck des Leichenhaften, worauf doch alle diese Merkmale hinzielen, gesteigert werden. Im Gegensatz dazu sind die springenden und tanzenden Bewegungen der Toten sehr lebhaft dargestellt, wobei ihre ausserordentlich verschiedene I Ialtung jedenfalls nicht ohne Absicht Abwechselung in den Reigen brachte.
Ganz sicher deuten auf eine Entlehnung \on den Todesbildern der alten Handschriften oder anderer Denkmäler die Attribute der Toten in der Danse macabre; sie tragen Sargdeckel, Pfeile, Sensen, Schaufeln. Dagegen fehlten dort durchweg die Musikinstrumente, die in allen deutschen Totentänzen eine bedeutsame Rolle spielen und auch in die späteren Ausgaben der Danse macabre übernommen wurden.
Ich kann an dieser Stelle noch nicht über die besonderen Beziehungen des Pariser Gemäldes zu seinem Yorbilde, dem Schauspiel, über ihre Verschiedenheit und Übereinstimmung im einzelnen reden, weil sich dies erst aus genaueren Verbleichungen mit anderen Toten-tanzen ergeben wird. Eins kann aber schon hier erörtert werden: uie weit sich unser Gemälde nach seinem allgemeinen Inhalt dem Schauspiel anschloss oder sich von ihm entfernte. Wir wissen schon, welche formale Änderung bei der Übertragung des Schauspiels in ein Gemälde nötig war. Genau genommen war sie gar nicht so ein-greifend, wie es auf den ersten Blick scheint; denn die paarweise Vereinigung des Todes mit einem Lebendin wiederholte sich im gespielten Drama ebenfalls so oft als Lebende vorgesehen waren. Der Unterschied war nur der, dass im wirklichen Spiel der eine Tod an allen Paaren nacheinander beteiligt war, während der Maler sie alle dauernd nebeneinander stellen und daher den Tod vervielfältigen musste. Dass man diese zahlreichen, gleichzeitig auftretende*! Toten-gestalten früher oder später ,,Tote“ nannte, ist natürlich; daraus folgt aber nicht ohne weiteres, dass sie auch sofort eine andere Rolle spielten als der Tod des Dramas. Dieser tanzte mit dem von ihm angeredeten und beschiedenen Lebenden, was zugleich dessen Tod bedeutete; die Toten des Pariser Totentanzes und überhaupt aller französischen und aller von ihm unmittelbar abhängigen Totentanzgemälde thun weder nach dem Text noch nach dem Bilde etwas anderes. In Lübeck hielt man es ja nicht einmal für nötig, den alten Schauspieltext mit dem einen Tod für das Gemälde in der bekannten Weise abzuändern, und in Paris ist wenigstens in den Wechselreden niemals die Rede vom Toten — ,,le mort“, wie die vielleicht in den Buchausgaben hinzugefügten Überschriften lauten, sondern nur vom Tode (la mort), der sogar einmal, vom Bürger, direkt angeredet wird. Auch führen die Pariser Totengestalten, soweit es der Zusammenhang des Reigens zulässt, d. h. soweit sie überhaupt eine Hand frei haben, die unzweifelhaften Attribute des mordenden Todes; zum Überfluss zeigt uns das Gemälde von La Chaise-Dien (s. u.) neben den gewöhnlichen Totengestalten solche, die mit Pfeilen nach den Menschen schiessen.
Ein anderes Motiv als den mit einem Tanz verbundenen wirklichen Tod, was aber schon im Schauspiel vorkam, zeigen die französischen Bilder nicht; und in der französischen Erfindung des Kettenreigens sehe ich ebenfalls nur die Absicht, irgendwie noch an die Einheit des Dramas, an den einen Tod, durch dessen Hände alle Lebenden gehen, anzuknüpfen, Die möglichst genaue Anlehnung an das Schauspiel, die, wie sich noch zeigen wird, viel weiter geht, als hier angedeutet werden konnte, ist überhaupt ein Hauptmerkmal des Pariser Gemäldes; und wenn seinem Urheber ein besonderes Verdienst zuerkannt werden soll, so ist es die für jene Zeit überraschende Geschicklichkeit der Zeichnung, die in den späteren Nachahmungen oft sehr empfindlich vermisst wird.
Aus dem Buch: Holbeins Totentanz und seine Vorbilder (1897), Author: Goette, Alexander.
Siehe auch: Hans Holbeins Totentanz und seine Vorbilder – Einleitung, Über Inhalt und Ursprung der Totentänze.