III
Hans Holbeins Totentanz und seine Vorbilder – Der Totentanz von Kermaria
ANZ unzweideutig ist dieses durch Soleil in einem Kirchlein der Bretagne entdeckte Wandgemälde eine Nachahmung des Pariser Gemäldes. Die Verse, von denen Solkil allerdings nur wenige lesbar fand , sind bis auf minimale Abweichungen identisch mit denen von Paris, und die Reihenfolge der Stücke ist an beiden Orten dieselbe . Freilich fehlen in Kermaria ausser dem einleitenden und dem Schhissbilde sieben Paare (Domherr, Kaufmann, Arzt, Advokat, Pfarrer, Küster, Eremit); dies erklärt sich aber genügend aus dem Raummangel, der eine Kürzung gebot. Fünf Paare sind ausserdem durch bauliche Veränderungen, die letzte Person, das Kind, in anderer Weise zerstört. Auch die gemalten Arkaden sind in Kermaria wiederholt, bilden aber eine Einfassung um eine jede Person; hinter den Säulen weg fassen die Toten ausnahmslos ihre beiden Nachbarn an und bitten so einen ununterbrochenen Reigen. Dabei wurde auch der Arme des Wucherers, der sich in Paris ohne Störung als Nebenfigur cinfügen liess. in Kermaria, wo er ausserhalb der schematischen Ordnung des Reigens nicht unterzubringen war, in diesen eingerückt, wohin er gar nicht gehörte — ein unverkennbares Zeichen unüberlegter Nachahmung, wenn diese noch eines Beweises bedürfte.
Die Trachten der Lebenden weichen von denen des Pariser Bildes ab, zum ‚Feil auch ihre Attribute, wie der riesige H immelsschlüssel in den Händen des Papstes. Am auffälligsten sind jedoch gewisse Eigentümlichkeiten der I’otengcstalten. In der Regel gleichen sie ihren Vorbildern; nur wenige haben unzweideutige knochenartige Schenkel. Eine sonderbare Laune ihres Malers versah aber mehrere von ihnen mit Füssen, die statt in Zehen in lange schnabelschuhähnliche Spitzen auslaufen, gleich der Fussbekleidüng der neben ihnen stehenden Lebenden. Ferner tragen die Toten des Bischofs, des Serganten und des Kindes ganz deutliche Tierköpfe, und der Führer des Wucherers ist eine wie mit Totengewändern bekleidete weibliche Gestalt, also offenbar ein weiblicher Toter. Von durch eine spätere Übermalung hinzukamen, ist deswegen abzusehen, weil die übermässig langen Schnabelschuhe der Mitte des 15. Jahrhunderts angehören, um welche Zeit aber auch das ganze Bild von Kermaria als Nachbildung der Pariser Danse macabre vron 1425 gemalt sein muss. Sein Verfertiger wird also jene Zusätze einem anderen derartigen Gemälde entnommen oder aus seiner eigenen Phantasie geschöpft haben (s. den folgenden Abschnitt).
Das ganze Gemälde ist übrigens nicht nur schlecht erhalten, sondern auch von einem wenig geschickten Künstler gemalt. Die Gestalten sind durchweg steif und leblos ausgefallen, wozu der durchgehende Kettenreigen wohl am meisten beitrug; überhaupt ist die ganze Darstellung, insbesondere durch die bei jeder Person wiederholten Arkaden, von ermüdender Einförmigkeit.
An einer anderen Stelle derselben Kapelle von Kermaria wurde gleichzeitig die Legende von den drei Lebenden und den drei boten ausgeführt Bemerkenswert ist darin bloss der Spruch der Toten:
Nous avons bien esté en chance Autrefois, comme estes en présent,
Mais vous viendrez à notre dance,
Comme nous sommes maintenant.
Dieser auch in den „Heitres“ vom Anfang des 16. Jahrhunderts wiederkehrende Spruch wird wohl kaum in Kermaria entstanden und von diesem weit abgelegenen Platz verbreitet sein ; sondern wahrscheinlich wurde er samt dem zugehörigen Bilde nach einem unbekannten Vorbilde kopiert, so wie der Totentanz naeh dem Pariser Gemälde. Jedenfalls ist es interessant, zu sehen, dass schon m jener Zeit die Vorstellung von einem ,,Tanz der Toten“ auch ausserhalb des eigentlichen Totentanzes verwertet wurde.
Die Bedeutung des Totentanzes von Kermaria beschränkt sieh wesentlich darauf, dass er uns weitere Zeugnisse für die Existenz und den Zustand des Pariser Gemäldes liefert. Liess sieh schon aus den Trachten der Holzschnitte von 1485 feststellen, dass ihre Figuren getreu nach dem alten Gemälde auf dem Kirchhofe des Innocents gezeichnet waren, so beweisen die Arkaden und der Ketten reigen in Kermaria, dass diese Dinge ebenfalls schon dem Pariser Original angehörten, das der Kopist jedenfalls nach Beschreibungen gekannt haben muss. Denn dass er es durch eigene Anschauung kannte, ist angesichts der ganzen geschmacklosen Darstellung und solcher gedankenlosen Willkür, wie es die Einreihung des Armen in den Kettenreigen ist, gar nicht zu glauben.
Aus dem Buch: Holbeins Totentanz und seine Vorbilder (1897), Author: Goette, Alexander.
Siehe auch: Hans Holbeins Totentanz und seine Vorbilder – Einleitung, Über Inhalt und Ursprung der Totentänze, Die Französischen und Niederdeutschen Totentänze.