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Der Totentanz von La Chaise-Dieu

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IV

Hans Holbeins Totentanz und seine Vorbilder – Der Totentanz von La Chaise-Dieu

IS gegen die Mitte unseres Jahrhunderts blieb auch dieses alte Wandgemälde der berühmten französischen Abtei weiteren Kreisen unbekannt  erst 1841 w urde es durch Jubinal der Vergessenheit entrissen, der eine Kopie davon unfertigen liess und sie mit einigen, leider gar zu dürftigen Notizen begleitete1). Es befand sich im Innern der Kirche auf einer Mauer, die aus vier breiten, pfeilerartig vorspringenden Teilen, zwei an den Enden und zwei in der Mitte, und drei die Zwischenräume ausfüllenden längeren Wänden bestand. Diese letzteren waren getüncht; die Pfeiler hatten dagegen eine nackte Steinfläche und waren in Felder eingeteilt . Trotzdem war das Gemälde von Anfang an als ein fortlaufendes gedacht, da nicht nur die getünchten Wände, sondern auch die Pfeiler in ununterbrochener Reihenfolge bemalt waren, so dass die Toten und ihre Partner sich oft auf verschiedenen Flächen befanden. Das letzte Feld des zweiten Pfeilers und ein Streifen der folgenden Wand sind in der juBiNALSchen Kopie leer gelassen, weil eine in neuerer Zeit vorgebaute Kanzeltreppe sie völlig verdeckte.

Da dem Gemälde ein begleitender Text fehlt und viele Gestalten keine bezeichnenden Attribute führen, ist es nicht leicht, sie ohne weiteres richtig zu deuten. Jubinal selbst spricht u. a. von einem Grafen, der den französischen Totentänzen ganz fremd ist, und Mass.mann hat die Personen noch schlimmer verwechselt, den Lehrer mit dem Chorpfaffen, den Bürger mit dem Juristen, den Domherrn oder Chorpfaffen — dessen bezeichnendes Almucium wohl für eine Mantille genommen wurde — mit der Abtissin, den Sergeanten mit dem Ratsherrn, den Wucherer und den Advokaten mit dem Arzt, obwohl der Sergeant seinen Stab, der Wucherer Geldsäcke und der Advokat sein Schreibzeug als Attribute mit sich führen. Die Herausgeber des Langloisschen Buches haben aus dem jugendlichen Domherrn ebenfalls eine Abtissin gemacht und im übrigen die Pfeilerbilder als dem  Totentanze fremde Zuthaten überhaupt nicht mitgezählt.

Es ist eben niemand darauf verfallen, die Danse macabre von Paris zum Vergleich heranzuziehen; stellt man aber beide Reihen nebeneinander, so ergiebt sich ihre Übereinstimmung ohne weiteres und damit die richtige Deutung der Figuren in La Chaise-Dien . In beiden Gemälden sind die Paare des eigentlichen Totentanzes in derselben Anzahl (30) vorhanden, wobei freilich zu berücksichtigen ist, dass in La Chaise-Dieu zwei Lebende (Abt, Bürgermeister) und ein Toter durch einen Vorbau verdeckt wurden . Dazu kommt der für die französischen Totentänze bezeichnende Wechsel der Geistlichen und Weltlichen, der in La Chaise-Dien ebenfalls unverkennbar ist, bevor noch die einzelnen Personen bestimmt gedeutet sind. Überträgt man nun die Namen der in der Danse macabre von Paris vorhandenen Personen auf die ihnen in der Reihenfolge entsprechenden Gestalten von La Chaise-Di, so stösst ihre Bezeichnung eigentlich nirgends auf Schwierigkeiten. Nur an zwei Stellen begegnen wir dort ganz neuen Gestalten, nämlich zwei Frauen an Stelle des Karthäusers und des Mönches. Judn.vi, (S. 16) nennt sie „Nonne“ und „Bürgerin“, Massmann „Äbtissin“ und „Nonne“, was ich auch für das Richtigere halte. Durch diese Abänderung wird aber die übrige mit Paris übereinstimmende Reihen-folge in keiner Weise gestört

Auch die einleitenden und abschliessenden Sccncn fehlen in Da Chaise-Dieu nicht; sie zeigen aber schon etwas grössere Abweichungen von den entsprechenden Pariser Bildern. Der erste Prediger, der den „Acteur“ von Paris vertritt, steht auf einer Kanzel, und zu seinen Füssen, aber von ihm abgewendet sitzt ein Mann in geistlichem Gewände, dessen sonstige Bedeutung schwer zu enträtseln ist, da Gesicht, Arme und Hände völlig verwischt und auch die Attribute nicht zu erkennen sind, nämlich ein auf seinem Schosse befindlicher rundlicher Gegenstand und ein stabförmiges Gebilde mit erweitertem Ende, das über seiner rechten Schulter in die Höhe ragt.

Diese Figur fehlt in Paris und Kermaria; ihre etwaigen Analogien müssen
lso in anderen Totentanzgemälden gesucht werden.
oberdeutschen Totentänzen Vorkommen, abzuweisen; denn einmal fehlen diese Zuhörer in allen französischen und den von Frankreich unmittelbar inspirierten norddeutschen Totentänzen, und zweitens wäre eine einzige und zudem vom Prediger abgewendete Person als Vertreter der ganzen Zuhörerschaft doch eine recht verunglückte Vorstellung. Die einzigen vergleichbaren Figuren finde ich in dem Berliner und dem Revaler Totentanz, die beide bekanntlich auf den Lübecker Totentanz zurückzu führen sind. In dem letzteren ist der Prediger offenbar erst nachträglich verschwunden, da er in der Revaler Kopie  nebst der zugehörigen, dem französischen Vorbilde nachgeahmten Person vorhanden ist; er befindet sich dort wie in La Chaise-Dieu auf der Kanzel, und darunter sitzt, mit dem Rücken zur Kanzel, ein Toter, der den Dudelsack bläst . Wahrscheinlich befand sich in Lübeck eine ähnliche Gruppe; denn auch der Berliner Totentanz beginnt mit einem Prediger auf der Kanzel, an deren Fuss ein Dudelsackpfeifer sitzt — hier freilich eine Teufelsgestalt, wie sie nirgends in einem Totentanz vorkommt und die daher in Berlin erfunden sein muss.

Aber auch der musizierende Tote in Reval ist für seine Rolle unpassend gewählt. Denn diese Figur gehört ebensowenig zum Reigen wie der Prediger, neben dem sie sieh befindet, sondern stellt einfach den Musiker des Schauspiels vor, der mit der Person des Todes nicht identisch sein konnte.

Dies wird durch die Gruppe des Predigers in La Chaisc-Dieu bestätigt; denn es kann nicht mehr zweifelhaft sein, dass die dort unter der Kanzel des Predigers sitzende Figur ebenfalls ein Musiker ist, dessen Dudelsackpfeife sich in dem stabförmigen Gegenstände genau so darstellt wie im Rcvaler Bild. Daraus folgt, dass diese Figur des Musikers schon dem altfranzösischen Schauspiel, der gemeinsamen Quelle der norddeutschen und französischen Gemälde des Totentanzes, angehörte; und da der Maler von La Chaise-Dien aus dieser Quelle unmittelbarer schöpfen konnte als die norddeutschen Künstler, so wird schon deswegen seine Darstellung eines musizierenden Geistliehen, eines Mitgliedes des die Aufführungen leitenden Ordens, die ursprünglichere sein, sowie sie unbedingt natürlicher ist. Die Willkür, womit in Reval und wahrscheinlich auch in Lübeck der Musiker in die Maske eines Toten gesteckt w urde, wird nur noch durch die Berliner Variante überboten.

In Paris sehliesst der eigentliche Reigen mit dem Toten hinter dem Eremiten ab, worauf Schlussbilde der tote König und der zweite Prediger folgen. In La Chaisc-Dieu folgt aber auf den Eremiten noeh eine Gruppe von drei Personen, einem Geistlichen, einem Weltlichen und einer Frau, die, weil der tote König fehlt, unmittelbar vor dem zweiten Prediger stehen, aber erst recht nicht als dessen Zuhörer gelten können, da hinter ihnen noch ein Toter sichtbar wird. Ich halte diese Gruppe vielmehr für identisch mit der Gruppe von unbenannten Personen (los que non nombro), die im spanischen Text ebenfalls am Schluss vom Tode angeredet wird und daher zweifellos auch im französischen Schauspiel vorkam

Ein vollkommen neuer Zusatz in La Chaisc-Dieu ist die vor dem ersten Prediger angebrachte Gruppe: Adam und Eva, zw ischen ihnen an einem Pfahl sich aufringelnd die Schlange mit einem Totenkopf. Es ist klar, dass dieses Bild mit dem ursprünglichen dramatischen Totentanz nichts zu thun hatte, sondern wohl auf Anordnung der geistlichen Besteller der Malerei hinzukam, da ja die Beziehung des Sündenfalles zum Tode als „der Sünde Sold“ zum gewöhnlichen Inhalt der Predigten gehörte und schon in Miniaturen des 14. Jahrhunderts gefunden wird (Frimmel).

Wenden wir uns von diesen Einzelheiten des Gemäldes wieder dem Ganzen zu, so macht sich vor allem der Eindruck geltend, dass es in dem uns überlieferten Zustande kein einheitliches ist und nicht von einer Hand gemalt sein kann, Wackernagel meint daher: der Totentanz von La Chaise -Dieu „mit dem unverkennbaren Gemisch zweier ganz verschiedenen Arten der Malerei, einer leblos unbeholfenen und einer bewegten, besseren, mag zuerst schon im 14. Jahrhundert entstanden sein, nach 1343, in welchem Jahre die Kirche gegründet wurde, im 15. Jahrhundert aber stückweise eine Übermalung und Erneuerung erfahren haben“ . Solche Übermalungen und Erneuerungen haben gewiss stattgefunden, aber nicht nur im 15. Jahrhundert, sondern auch noch viel später. Dies beweisen u. a. die Einzeichnungen von solchen Muskeln und Knochen an den Toten, die frühestens im 16. Jahrhundert den Malern bekannt wurden, z. B. die Wirbelkörper des Rückgrats an den Toten des Sergeanten und der Nonne, der dünne, schräg über den Oberschenkel verlaufende Muskel (M. sartorius) und die ganz schwach, aber nicht unrichtig eingezeichneten Fussknochen an den Toten des Bauern, des Mönches und der letzten Gruppe.

Trotz der richtigen Zeichnung waren diese späteren Zuthaten meist gedankenlos angebracht, da die genannten Knochen (Wirbelkörper, Fusswurzelknochen) unter keinen Umständen durch die Haut durchscheinen können. Geradezu handwerksmässig wurde eine ganze Reihe anderer Erneuerungen vorgenommen, wobei namentlich die Verwechselung von rechten und linken Händen und Füssen eine grosse Rolle Spielt, ein sicheres Zeichen, dass ganz untergeordnete Ausbesserer sich an das Gemälde gemacht hatten. Unter den fünf loten, an deren Füssen Zehen gezeichnet sind, befinden sich drei mit je zwei linken Füssen, und gegen zehn Hände sind völlig verzeichnet, vicriingerig u. s. w Und dies sind nicht die einzigen Merkmale einer späteren und zwar mehrmaligen Ausbesserung des Gemäldes von La Chaise-Dieu durch recht verschiedene Hände, wie es ja bei jedem derartigen Wandgemälde vorgekommen ist Ich habe aber keinerlei Anhaltspunkte dafür gefunden, dass die Ausbesserungen über solche Details hinausgegangen seien, die ganze Haltung der Gestalten verändert, leblose in lebendig bewegte verwandelt hätten, wie es Wackernagel annimmt. Die ruhigeren und die bewegten Gestalten wechseln in La Chaise-Dieu überhaupt nicht mehr ab wie in der Danse macabre von Paris, und die in der grössten Bewegung befindlichen Toten des Patriarchen, des Ritters, des Bürgers, des Domherrn u. s. w sind nicht etwa die besseren, wie man nach Wackernagel meinen sollte, sondern unbedingt die schlechteren. Ich kann mich also nicht überzeugen, dass das Gemälde durch Übermalung und Erneuerung des früher Vorhandenen sich in einigen Teilen wesentlich und gar zu seinem Vorteil verändert und dadurch in zwei ungleiche Hälften gesondert hätte.

Dagegen scheinen mir allerdings die verschiedenen Teile des Gemäldes in zwei Gruppen zu zerfallen, die nicht nur zeitlich, sondern auch nach ihrer Auffassung und Darstellung getrennt voneinander entstanden. In die erste Gruppe gehören: der Totentanz vom Papst bis an den Bischof (erste Wand), dann vom Lehrer bis zum Bürger einschliesslich (zweite Wand) und vom Jüngling bis an den Eremiten (dritte Wand), endlich die beiden Prediger auf dem ersten und vierten Pfeiler. In diesen fünf getrennten Abschnitten sind alle Figuren mit Farben und Schattierung fertig ausgeführt gewesen und stimmen auch wesentlich mit der üblichen Vorstellung eines Totentanzes überein. Hervorzuheben wäre hier nur, dass die aneinander gereihten Paare gar nicht wirklich alle oder auch nur zum grössten Teil so innig verbunden sind wie die Doppelpaare der Pariser Danse macabre, dass sie aber durch das enge Zusammenrücken doch einen fortlaufenden geschlossenen Reigen vortäuschen: dass ferner die Lebenden durch ihre gebeugte, oft schlaffe Haltung sowie durch die geschlossenen Augen den Eindruck von Sterbenden machen.

Die zweite Gruppe bilden: Adam und Eva, der musizierende Mönch und der erste Tote (erster Pfeiler), der Bischof und der Edelmann mit zwei Toten (zweiter Pfeiler), der  Wucherer und der Arzt mit ihren Toten (dritter Pfeiler), der Waldbruder und die Gruppe der Unbenannten mit ihren Toten (vierter Pfeiler). Alle diese Gestalten der zweiten Gruppe, die sich ausschliesslich auf den Pfeilern befinden, sind nicht nur beinahe durchweg beschädigt, was sich durch den unvollkommenen Malgrund von blossen Steinen erklärt, sondern auch ohne Schattierung), einige bloss skizziert, ohne Andeutung eines Bodens, in verschiedenem Niveau und verschiedener Grösse angelegt, was jedenfalls beweist, dass sie nicht gleichzeitig mit der ersten Gruppe entstanden. Noch bezeichnender für ihre Sonderstellung ist der Umstand, dass sie entweder gar nicht zum Totentanz gehören (Adam und Eva) oder ihn in ganz ungewöhnlicher Weise ergänzen und illustrieren. Sie sind völlig getrennt voneinander je auf ein Pfeilerfeld hingesetzt; der Bischof sitzt sogar, während die zwei Toten desselben Pfeilers, statt die Lebenden zu fassen, in wunderlicher Stellung mit dem Finger irgend wohin deuten Von den drei Toten des dritten Pfeilers sind zwei mit Bogen und Pfeil bewaffnet, der eine schiesst und der in halber Riickenansicht dargestellte Mann (Arzt?) ist sogar von einem Pfeil getroffen; der dritte Tote beschäftigt sich, statt mit dem folgenden Jüngling, mit einer emporgehaltenen Schlange.    Auch der Eremit und die folgende Gruppe der Unbenannten sind ohne jede kenntliche Beziehung zu ihren Toten hingestellt.

Aus allem geht mit Bestimmtheit hervor, dass der Maler der ersten Gruppe, nachdem er die Disposition des ganzen Totentanzes getroffen hatte, die glatten Wandflächen mit den dafür bestimmten Figuren bedeckte und die Pfeiler für die darauf entfallenden Figuren freiliess (mit Ausnahme der ebenfalls gleich anfangs gezeichneten beiden Prediger); worauf ein zweiter Maler die Lücken wohl nach demselben Text, aber zum Teil in einem ganz anderen Sinne ausfüllte. Denn dass der erste Maler sein eigenes Werk mit so sinnwidrigen Einschiebungen unterbrach, wie die Malereien der mittleren Pfeiler, halte ich für ausgeschlossen. Übrigens dürfte der Zeitabstand zwischen beiden Malereien, nach den Trachten zu schliessen, kein sehr grosser gewesen sein. Xur das Bild des Sündenfalles wäre vielleicht davon auszunehmen; denn seine Zeichnung unterscheidet sich so vorteilhaft von allen übrigen Figuren desselben Gemäldes, dass es noch später als die eigentlichen Ergänzungen angesetzt und einem anderen Maler zugeschrieben werden könnte als dem Schöpfer der letzteren.

Die Totengestalten von La Chaisc-Dieu zeichnen sich vor denen von Paris dadurch aus, dass ihre Körper vollkommen intakt sind. Die Schädel dagegen sind, soweit nicht eine spätere Hand sie verbesserte , recht unnatürlich, oft monströs und geradezu affenartig geraten, ein Beweis, dass der Maler, dem wirkliche Totenschädel offenbar unbekannt waren, doch der Tradition nachkam, seinen Toten einen grausigen Ausdruck zu verleihen. Wie ich schon hervorhob, sind nur bei fünf Toten die Küsse mit Zehen versehen und meist verzeichnet; alle übrigen Toten haben Schnabelschuh ähnliche Füsse und zwar besonders ausgeprägt in der älteren Gruppe.

Ich glaube daraus schliessen zu dürfen, dass die Zehenzeichnung von einem ungeschickten Ausbesserer herrührt, während der erste Maler ausschliesslich die andere Fussform verwendete, die wir schon in Kermaria antrafen. Endlich verdient noch die bisher unbeachtete Thatsaehe angemerkt zu werden, dass der Tote des Ritters ein weiblicher ist.

Wie man sieht, besteht in der Bildung der Toten eine sehr merkwürdige Übereinstimmung zwischen den Totentänzen von Kermaria und La Chaise-Dien, deren Erklärung ganz naturgemäss mit einer Altersbestimmung beider Gemälde zusammen fällt. Das Alter des Totentanzes von La Chaise-Dieu ist bisher sehr verschieden geschätzt worden. Wackernagel versetzt ihn mitten ins 14. Jahrhundert, Jubinal, der in La Chaise-Dieu noch andere Malereien aus derselben Zeit studiert hat, auf Grund der dargestellten Trachten in die Mitte oder ans Ende des 15. Jahrhunderts. Ohne eine Vergleichung aller drei französischen Gemälde lässt sich aber eine sichere Entscheidung nicht fällen,

Angesichts der so sehr verschiedenen Malerei in Paris und La Chaise-Dieu kann man geeignete Anknüpfungspunkte in beiden Gemälden nur in Bezug auf den allgemeinen Inhalt und die Reihenfolge der Bilder finden. Darin stimmen sie aber so sehr überein, dass man mit Sicherheit annehmen kann, die Maler hätten mit gewissen Abänderungen, die bei keiner Wiederholung unseres Themas fehlen, nach derselben Textvorlage gearbeitet. Es erhebt sich dann nur noch die Frage, ob diese Vorlage der ursprüngliche an beiden Orten benutzte Schauspieltext oder der in Paris für das dortige Gemälde verfasste Text war, der dann durch Abschrift nach La Chaise-Dieu gelangte, wo ein eigener Gemäldetext nicht existierte. Ich entscheide mich für das erstere aus folgenden Gründen.

Die Besonderheiten im Bilde von La Chaise-Dieu sind erstens die zwei Frauen, die vermutlich auf einer lokalen Erfindung beruhen*), dann der musizierende Mönch neben dem Prediger auf der Kanzel und die Gruppe der unbenannten Stände, also Figuren, die, nach dem spanischen Text und dem Revaler (Lübecker) Gemälde zu schliessen, dem alten französischen Schauspiele angehörten. Sie fehlen aber in Paris, wo dafür der Arme des Wucherers und der tote König, die dem Schauspiel fremd und dort geradezu unmöglich waren, als für das Gemälde neuerfundene Personen figurieren; auch die Umbildung des Predigers in den geistlichen Verfasser ist, wenngleich von untergeordneter Bedeutung, ebenfalls als eine Abweichung vom Urtext anzuführen. Geht man also davon aus, dass in La Chaise-Dieu nach dem Pariser Text gearbeitet w urde, so musste doch daneben auch der Schauspieltext benutzt worden sein, und zwar so, dass alle sicheren Abweichungen des Pariser Textes von jenem Urtext vermieden wurden und dafür der letztere wiederhergestellt wurde. Unter solchen Umständen ist es aber gar nicht zu verstehen, wozu der Pariser Text in I .a Chaise-Dieu sollte gedient haben. Denn dass er etwa noch in anderen, uns unbekannten Fällen vom Urtext abwich und darin in La Chaise-Dieu befolgt wurde, ist eben wegen jener nachweisbaren Treue von La Chaise-Dieu in der Wiedergabe des Urtextes ganz unwahrscheinlich. Nach dem uns allein sicher bekannten Vorgehen des Malers von La Chaise-Dieu muss man vielmehr annehmen, dass er sich hinsichtlich des Inhaltes der Bilder — mit Ausnahme der beiden Frauengestalten — streng an den Urtext hielt, wobei natürlich der Pariser Text ganz überflüssig war, und dass, soweit er dabei mit seinem Pariser Kollegen überein-stimmte, dies auf einer Identität auch des Pariser Textes mit dem Schauspieltext beruhte. Wir können also gar nicht anders sehliessen, als dass an beiden Orten nach derselben Vorlage, nämlich nach dem alten Sehauspieltext gemalt wurde, in La Chaise-Dieu mit genauer Anlehnung an ihn (bis auf die zwei Frauen), in Paris mit den grösseren Abweichungen in der Einleitung und am Schluss, so dass aber der eigentliche Reigen, abgesehen vom Armen des Wucherers, den Inhalt des Schauspieles treu wiedergiebt.

Diese aus den allein bekannt gewordenen französischen Totentänzen abzuleitende Erklärung beweist dass der spanische und der alte Lübecker Text, namentlich in der zweiten Hälfte, sehr viel mehr von dem alten französischen Schauspiel, ihrem gemeinsamen Vorbilde, ab weichen als eben jene französischen Gemälde selbst . Auch erseheint es ganz natürlich und von vornherein wahrscheinlich, dass die Unterschiede von diesem Schauspiel, das in Frankreich entstanden war, gerade bei den auswärtigen und nicht bei den französischen bildlichen Wiedergaben überwiegen. Seelmann sehliesst sich aber dieser Auffassung nicht an, sondern sucht das Gegenteil dadurch zu begründen, dass die Schlussworte des Kindes und drei Personen, der Prediger, die Kaiserin und die Jungfrau, gleicherweise in Lübeck und in Basel, aber nicht in Paris vorkämen; denn jener gemeinsame Besitz könne nur von dem gemeinsamen Vorbilde, dem französischen Schauspiel, herrühren, von dem also der Pariser Totentanz viel mehr abweiche. Seelmanns Überzeugung von der Ursprünglichkeit des Lübecker Totentanzes geht sogar so weit, dass er ihn geradezu als „Übersetzung“ eines altfranzösischen Schauspieltextes bezeichnet, den er dem Pariser Text als einem abgeleiteten entgegengesetzt. Er übersah jedoch] dass die Existenz der angeführten Schlussworte des Kindes im Lübecker Gemälde noch ganz hypothetisch ist (s. den Lübecker Totentanz) und dass der Unterschied zwischen Acteur und Prediger sich nur auf das Bild, nicht auf den gleichen Inhalt und Text bezieht, so dass der ganze Beweis sich eigentlich nur auf die zwei Personen der Kaiserin und der Jungfrau stützt. Wenn man aber auch von dieser Einschränkung des Beweises ganz absieht, so bleibt doch das ganze Beweisverfahren ein recht trügerisches. Denn da auf der anderen Seite auch Basel und Paris vier Personen gemeinsam haben (Patriarch, Erzbischof, Advokat, Spielmann), die wiederum in Lübeck fehlen, so würde daraus nach dem von Seeemanx vertretenen Grundsatz gerade das Gegenteil seiner Folgerung sich ergeben, dass nämlich Lübeck sich von dem Inhalt des alten Schauspieltextes weiter entfernt habe als Paris.

Auf diesem Wege lässt sich also nichts entscheiden. Hält man sich dagegen an die, wie mir scheint, überzeugenden Indizien für die im ganzen treue Wiedergabe des französischen Schauspiels in den Gemälden von Paris und La Chaise- Dieu, so ist nichts natürlicher, als die Abweichungen in Lübeck, soweit sie sich an den oberdeutschen Totentanz anlehnen, auch direkt von diesem abzuleiten, der doch schon Jahrzehnte vor der Entstehung des Lübecker Gemäldes (ca. 1463) in zahlreichen Abschriften und selbst Drucken verbreitet war (s. Abschnitt 9). Ich halte es daher für sicher, dass das Pariser Bild, obwohl es in manchen Einzelheiten vom Schauspiel abwich, gerade in der Wahl und Reihenfolge der Stände sich genauer als irgend ein deutscher Totentanz an dasselbe an schloss.

Die Untersuchung des Gemäldes von La Chaise-Dieu hat aber noch andere Vergleichspunkte als die erörterten ergeben: die merkwürdige Übereinstimmung in der Bildung seiner Totengestalten und derjenigen von Kermaria. Die tierischen Köpfe, der weibliehe Tote und die langen schnabelsehuhähnlichen Küsse, worin wohl die Verspottung einer Modethorheit zu erblicken ist, — diese Dinge können unmöglich unabhängig voneinander und doch in gleicher Weise an zwei verschiedenen Orten erfunden sein, sondern müssen in einem unmittelbaren Zusammenhänge stehen. Derselbe Maler kann aber beide Bilder nicht angefertigt haben, dazu gehen sie im übrigen zu sehr auseinander. Es muss also eins dem anderen zum Vorbilde gedient haben, oder beide schöpften aus einer gemeinsamen Quelle, ln der That finden sich die Affenköpfe, wie wir sahen, gelegentlich in den Miniaturen, und der weibliehe Tote wird uns noch in den oberdeutschen Holzschnitten aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts begegnen (s. Abschnitt 9). Dies beweist nun nicht einfach, dass jene französischen Miniaturbilder und diese deutschen Hlolzschnitte die unmittelbaren Vorlagen in Kermaria und La Chaisc-Dieu waren oder dass diese Besonderheiten schon im geistlichen Schauspiel vorkamen, was ich für ganz unwahrscheinlich halte. Sie mögen aber in dem von professionellen Schauspielern aufgeführten Totentanz des 15. Jahrhunderts, über den zeitgenössische Berichte vor-liegen (Lavulois, Ditour), aufgekommen und dadurch verbreitet sein. Nur für die Schnabelschuhe der Toten giebt es keine anderen Belege als die beiden französischen Gemälde. Woher sie aber auch stammen mögen, so sind sie doch für die Datierung dieser Gemälde von entscheidender Bedeutung, da sie durch ihre übermässige Länge deutlich auf die Mitte oder die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts hinweiseil. Von ihrer Entstehung bei Gelegenheit einer Ausbesserung und Übermalung kann deshalb nicht die Rede sein, weil alsdann die Gemälde selbst bis gegen 1400 zurückzudatieren wären, was aber namentlich für Kermaria mit seiner ganz unzweifelhaften Kopie der Pariser Danse macabre ganz ausgeschlossen ist. So bleibt die Annahme die wahrscheinlichste, dass diese Gemälde dem angegebenen Zeitraum angehören, und zwar so, wie es schon die französischen Korscher angeben; der Totentanz von Kermaria der Zeit um 1450 und der von La Chaise-Dien der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts (Jubinal).

Nichtsdestoweniger ist dieses jüngste der drei besprochenen, französischen Totentanzgemälde die treueste Kopie des Schauspiels, offenbar weil es seinen Ursprung nicht einem eigenmächtig „verbessernden“ Dichter und Gelehrten verdankte, wie es in Paris geschah, sondern einem schlichten Klostergeistlichen in der Provinz, der sich auf die kritiklose Wiedergabe des vielleicht auch innerhalb der Mauern seines Klosters aufgeführten Schauspiels beschränkte.

Aus dem Buch: Holbeins Totentanz und seine Vorbilder (1897), Author: Goette, Alexander.

Siehe auch: Hans Holbeins Totentanz und seine Vorbilder – Einleitung, Über Inhalt und Ursprung der Totentänze, Die Französischen und Niederdeutschen Totentänze, Der Totentanz von Kermaria.


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